Nachruf auf Prof. Dr. Hans Martin Sass (1935-2023)

Am 6. Februar 2023 ist Hans-Martin Sass, pensionierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und Senior Research Scholar sowie Direktor des European Professional Ethics Program des Kennedy Institute of Ethics an der Georgetown University in Washington DC in seiner Wahlheimat USA im Alter von 87 Jahren gestorben.

Geboren in Hagen (Westf.), Abitur in Gelsenkirchen, absolvierte er ein Studium der Philosophie in Erlangen und wurde 1963 in Münster promoviert. 1965 ging Sass zurück ins Ruhrgebiet an die neu gegründete Ruhr-Universität Bochum, wo er sich 1972 habilitierte und den Bereich Philosophie mit aufbaute. Von 1980 bis zu seiner Emeritierung war er gleichzeitig an der Ruhr-Universität in Bochum und der Georgetown Universität in Washington DC tätig. Dieses einmalige „Joint Appointment“ wurde vom Wissenschaftsministerium des Landes NRW gefördert, damit Sass als Brückenbauer zwischen der in den USA bereits entwickelten und etablierten Medizinethik und den neuen Entwicklungen in Deutschland wirken konnte. Er hat für das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie einen einflussreichen Bericht über die Entwicklung und Perspektiven der US-amerikanischen Bioethik geschrieben und das Ministerium mit seinen persönlichen Erfahrungen und Insiderkenntnissen beraten.

Dabei verstand sich Sass nicht als unkritischer Übersetzter der US-amerikanischen Bioethik, sondern versuchte, mit Orientierung an europäischen Traditionen einen eigenständigen Weg bei der Entwicklung von Medizinethik in Deutschland und Europa zu gehen. Gerne erinnerte er seine US-amerikanischen Bioethik-Kollegen daran, dass der Begriff „Bio-Ethik“ bereits 1927 vom deutschen Theologen Fritz Jahr (1895-1953) geprägt wurde, und übersetzte dessen Publikationen ins Englische.

Das hohe persönliche Engagement von Hans-Martin Sass hat die Entwicklung des Fachgebietes Ethik in der Medizin im deutschsprachigen Raum entscheidend geprägt und gefördert. Er hat über 100 europäische und vor allem deutsche Kolleginnen und Kollegen zu Intensivkursen an das Kennedy Institute of Ethics, einem der weltweit führenden Zentren für Forschung und Lehre in der Bioethik, eingeladen und durch seine unermüdlichen Vermittlungen und Drittmitteleinwerbungen einen internationalen Austausch ermöglicht. Viele der Teilnehmenden und ihre Schülerinnen und Schüler sind heute in Forschung und Lehre in der Medizinethik tätig. Im akademischen Jahr 1994/95 hat Hans-Martin mich als jungen Gastwissenschaftler am Kennedy Institute of Ethics betreut und ich denke mit Dankbarkeit und Freude an seine fachliche Beratung und den persönlichen Austausch zurück. Unvergessen bleibt auch die Gastfreundschaft von Hans-Martin und seiner Ehefrau Renate in Washington, wo sich in ihrem Hause anlässlich des amerikanischen Thanksgiving-Festes eine lebendige Schar internationaler Gäste einfand.

Diese Aufbauarbeit fand unter heute kaum vorstellbaren schwierigen Bedingungen statt. In der Bundesrepublik Deutschland gab es keine Professur für Medizinische Ethik an einer Medizinischen Fakultät und eine wissenschaftlich fundierte Medizinethik spielte in der Ärzteausbildung kaum eine Rolle. Die Mehrheit der philosophischen Universitätsinstitute zeigte kein Interesse an den angewandten und praxisnahen Fragen der Medizinethik. Politik, Medien und die Öffentlichkeit begannen erst langsam die Bedeutung medizinethischer Themen für unsere Gesellschaft zu entdecken. Damals hatte die Medizinische Ethik in der Bundesrepublik kein akademisches Zuhause, es mangelte an allem: Personal, Geld, Einfluss und eigenen Institutionen.

In dieser schwierigen Lage gründete Sass mit anderen engagierten Hochschullehrern 1986, wenige Monate vor der Gründung der Akademie für Ethik in der Medizin e.V., was er stets mit einem stolzen Augenzwinkern betonte, das Zentrum für Medizinische Ethik e.V. (ZME) an der Ruhr-Universität Bochum als interdisziplinäre Plattform für Forschung, Lehre, Politikberatung und Öffentlichkeitsarbeit. Bis zu seiner Auflösung gehörten dem Zentrum 38 Professorinnen und Professoren der Ruhr-Universität Bochum aus den Fakultäten Philosophie, Medizin, Theologie, Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften und Biochemie an. Bereits ein Jahr später (1987) gab Sass mit seinem sozialmedizinischen Kollegen Herbert Viefhues, gleichzeitig Vorstandsmitglied der neu gegründeten Akademie für Ethik in der Medizin, die interdisziplinäre Publikationsreihe „Medizinethische Materialien“ heraus, in der 195 Titel erschienen (kostenfrei abrufbar unter https://ethik.geschichte.med.blogs.ruhr-uni-bochum.de/materialien/). Neben den frühen Bochumer Fallstudien zur ethischen Analyse medizinischer Fälle ist besonders der Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis (1987) zu erwähnen, der große Verbreitung gefunden hat und in 12 Sprachen übersetzt wurde. Der Arbeitsbogen dient den Mitgliedern des Behandlungsteams als Orientierungshilfe für medizinethische Falldiskussionen. Er fragt in strukturierter Weise nach medizinischen Fakten sowie ethischen Aspekten und führt auf dieser Grundlage zu einer praxisnahen Beratung über die weitere Behandlung des Patienten. In Inhalt und Form kommt der Bochumer Arbeitsbogen dem ärztlichen Handeln und Denken entgegen und erweitert dieses durch verständliche und strukturierte medizinethische Prinzipien. Zum Ausdruck kommt dieses z.B. durch den Begriff „Wertbild“ des Patienten in Analogie zum medizinisch bekannten „Blutbild“, um die hohe Relevanz ethischer Aspekte bei der medizinischen Behandlung zu verdeutlichen, wie Hans-Martin Sass unermüdliche betonte. Hieraus entwickelten sich die heute etablierten Modelle der ethischen Fallberatung im Gesundheitswesen. Ein weiteres Beispiel für die Pionierarbeit von Sass ist die „Wertanamnese“, eine Form der vorsorglichen Verfügung, die über die üblichen Ankreuzformulare von Patientenverfügungen hinaus geht und große Beachtung gefunden hat. Über viele Jahre hat das ZME eine kostenlose Bürgerberatung zu Patientenverfügungen angeboten. Aus dieser frühen Bochumer Pionierarbeit hat sich das Arbeitsgebiet der „Klinischen Ethik“ entwickelt, das bis heute einen Forschungsschwerpunkt der Bochumer Medizinethik darstellt.

Darüber hinaus war Sass bei der Gründung der Akademie für Ethik in der Medizin beteiligt. Seit 2000 gab er die Reihe „Ethik in der Praxis – Practical Ethics“ im Verlag Lit, Münster mit über 80 Publikationen heraus. Zwei große internationale Tagungen, die Sass in Bochum zu den Themen interdisziplinärer Methodik „Güterabwägung und Medizin“ und „Genomanalyse und Gentherapie“ durchführte, haben zur konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklung der Medizinethik in Deutschland prägend beigetragen.

Von 1975 bis 1981 war Sass Geschäftsführer der Allgemeinen Deutschen Gesellschaft für Philosophie. In dieser Eigenschaft organisierte er für die Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie den 16. Weltkongress für Philosophie in Düsseldorf; damit tagte der Weltverband der Philosophen zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland.

Als ausgewiesener Kenner der klassischen deutschen Philosophie und des Marxismus-Leninismus hat er an der ersten „Delegation der Deutschen Forschungsgemeinschaft“ 1980 in die VR China teilgenommen. Auf seine Gespräche mit Universitätspräsidenten in Shanghai 1980 geht das seit 1981 bestehende Freundschaftsabkommen der Ruhr-Universität mit der Togji Universität zurück. Sass, der unter anderem Honorarprofessor des Peking Union Medical College (PUMC) und der Volksuniversität von China in Peking war, galt in China als vertrauenswürdiger Repräsentant der deutschen Wissenschaft, vor allem auf dem Gebiet der Bioethik. Sein zweisprachiges chinesisch-englisches Buch „Bioethics and Biopolitics Beijing Lectures by a European Scholar“ von 2006 ist zu einem einflussreichen Standardwerk der chinesischen Medizinethik geworden.

Sass gehörte 1991/92 dem vom Generaldirektor der UNESCO berufenen Vorbereitungsgremium für die Etablierung des „Comité international de bioéthique“ (CIB) an und war danach als deutsches Mitglied an der Verbreitung der UNESCO Declaration on the Human Genome 1997 beteiligt.

Für seine Verdienste wurde Hans-Martin Sass 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und als „Knight of Justice of the Order of Saint John“ (Rechtsritter des Johanniterordens) ausgezeichnet.

Mit dem Tod von Hans-Martin Sass verliert die Medizinethik in Deutschland einen prägenden, international versierten und weitblickenden Gründungsvater. Durch sein jahrzehntelanges persönliches Engagement, das weit über seine beruflichen Aufgaben als Universitätsprofessor der Philosophie hinausging, hat er sich in den Bereichen Wissenschaft, Gesellschaft und internationaler Verständigung große Verdienste erworben. Seine Freundlichkeit, Zuverlässigkeit und sein Optimismus haben viele jüngere Medizinethikerinnen und -ethiker ermutigt und bestärkt. Wir werden Hans-Martin Sass ein ehrendes Gedenken bewahren.

Jochen Vollmann